Besuch

 

Ich habe nicht erwartet, dass ich ihm je wieder begegnen würde. Nicht nach 10 Jahren, 5 Monaten und 18 Tagen.
Als Pohland den Besucher ankündigt, bin ich bestenfalls neugierig. Gut, auch etwas beunruhigt. Ich erwarte von Neuem nicht unbedingt Verbesserung.
Der Name, den Pohland nennt, sagt mir nichts. Ein Journalist vielleicht. Vielleicht ein junger Anwaltspraktikant.
Nein, jung ist er nicht. Natürlich, auch er ist gealtert, aber es hat Seriosität und Würde seiner Erscheinung hinzugefügt und weniger Verfall. Er hatte gewonnen. Mit der Zeit und sowieso. Auch hier ist er mir über, bin ich im Nachteil.
Nichts Neues also.
Mein erster Impuls ist, mich wegzudrehen und zu gehen.
Aber sein Wahnsinn, sein Übermut, seine Chuzpe, hier aufzutauchen, beeindrucken mich und Neugier hält mich auf meinem Platz.
Ich schweige. Er setzt sich an den Tisch, auf den Stuhl mir gegenüber.
Er schweigt.
Knetet kurz seine Hände, greift ein Paket Zigaretten aus seiner Jackentasche und hält sie mir hin.
„Ich rauche nicht.“
„Weiß ich doch. Ich dachte, du könntest sie – tauschen.“
„Ein Paket. Sehr großzügig.“
„Kurt. Sollte doch nur ein Einstieg sein.“
Ich schweige. 
Will es ihm nicht einfach machen. Soll er zappeln. Ich werde schon zu hören bekommen, was er mir sagen will. Weshalb sonst sollte er dieses Risiko eingegangen sein. Ich könnte ihn verraten. Sicher hat er die Besuchserlaubnis nicht unter seinem richtigen Namen beantragt und erhalten.
„Kurt.“
Er sieht mich an, die Hände nun vor sich auf dem Tisch liegend, die Finger gespreizt. Kurz hebt er sie an, um sie gleich wieder auf die Tischplatte zurückfallen zu lassen.
Ich sehe zum Fenster.
„Hörst du mir zu?“
Ich betrachte das milchige Helle, das hinter dem Fenster liegt. Weite. Unerreichbar.
„Ich brauche deine Hilfe.“
Fast hätte ich laut gelacht.

 


Andalusische Reise

Sie ist aus der gleißenden Sonne ins kühle Innere des Hauses getreten. Ihre Augen brauchen Zeit, sich zu gewöhnen, die Schatten geben den Dingen um sie herum verschwommene Konturen. Sie ignoriert das Unbestimmte ihres Blickes und handelt, als ob sie ein festes Bild vor Augen habe. Ihr Verstand sagt ihr, dass dies ein Tisch und acht Stühle seien, vor ihr zwei Gläser und ihre Tasse mit Kaffee. Daneben ihr Laptop, aufgeklappt, und mit einer gleitenden Bewegung über die Oberfläche erweckt sie ihn aus dem Ruhemodus.
Die Wärme der Sonne, die nun, nach Tagen gefüllt mit diesigem Feuchtenebel, auf die kleine Dachterrasse dringt, hat sie gerade in dem Ausmaß sediert, dass sie sich in der Lage sieht, ihr Projekt weiterzuführen.
Eigentlich fühlt sie sich überfordert.


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Er sitzt bereits auf seinem polsterlosen Stuhl an dem Esstisch, der ein Drittel des Zimmers füllt. Auf seinem Platz, in seiner Ecke. Er ist immer schon da. Wartet, dass andere das Zimmer betreten, hockt auf seinem Stuhl wie festgenagelt, sucht mit seinem Blick die Eintretenden ab, auf die Gelegenheit hin, das Wort an sie zu richten. Lauert. Unumgänglich. Gut ist, wenn alle anderen sich um ihn herum einfinden, um zu sprechen oder zu essen oder um beides miteinander zu verbinden. Schwierig für ihn, wenn sie sich aufteilten und sich auf den Weg machen, irgendwohin. Das Ziel der Exkursionen ist für ihn ohne Belang. Wichtig ist, die größte der Gruppen zu erkennen und damit die für ihn ergiebigste. Oft genug schon hatte er sich für die falsche entschieden. Doch jetzt sitzt er in der Wohnküche, an dem Esstisch, auf dem Stuhl und ist beruhigt. Nach dem Abendessen und zum Frühstück, das sind ihm die liebsten Zeiten.


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Wie immer findet sie sich draußen, außerhalb. Nicht absichtsvoll ausgegrenzt von Dritten, aber durch eine Folge von Bedingungen von den anderen getrennt. Bedingungen, die von jenen anderen erfüllt wurden. Die sie als Selbstverständlichkeiten adaptierten, sie in ihr Leben integrierten, als seien sie ohne Wahl, ohne Alternative. Gültig als Insignien einer Kategorie, eines Berufsstandes, einer inneren Bedeutung, die sich im Handeln manifestiert, unhinterfragt und selbstverständlich.
Sie zählt sich durchaus ebenfalls dieser Kategorie zugehörig, ist aber gleichzeitig von Zweifeln erfüllt, ob diese Zuordnung in der Realität bestand habe, der Realität der anderen, da es ihr doch so offensichtlich an etwas mangelte, das den anderen wiederum so beiläufig eignete.
Auch weiß sie nicht, ob ihr Mangel von jenen im Inneren erkannt, und, sollte dies der Fall sein, bewertet würde.
Ihr jedenfalls erscheint ihr Mangel als ein ihr inhärenter Makel, dessen Entstehen und Begründung sich ihr ebenso entzog, wie er sie zuverlässig von anderen schied.


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Er greift sich das Wort, spricht ohne Unterlass in die sich abwendenden Gesichter. Das kennt er schon. Irgendwann würden sie sich ihm zuwenden, sich ins Unvermeidliche schicken, ihm antworten und ihm so Anlass sein, weiter zu sprechen. Der Akt des Sprechens genügt ihm vollkommen. Er erscheint ihm wie ein erster Schritt. Verstehen würde sich anschließen, wenn die Zeit gekommen wäre. So spricht er denn an gegen diese schicksalshafte Zeitspanne, die ihn trennt von der Aufnahme durch die Anderen. Sein Wort kann sie bewegen, ihn anzublicken. Eines Tages würde in diesem Blick ein Verständnis liegen und er könnte aufhören, gegen Ihr Wegsehen anzusprechen. Dieser Tag war sein Ziel, dieses Ziel sein Lebensinhalt.


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Sie schaut auf den Abhang vor ihr, das graue Gestein, das in unterschiedlich großen Blöcken und Terrassen bis in die Vegetation, das erste Grün führt und zwischen ihr und dem erlösenden Schatten ihrer Unterkunft liegt.
Um sie herum Gelächter, das Klacken der Verschlüsse von Wasserflaschen oder Proviantdosen, Wortfetzen und ein energisches Zupfen an ihrem Arm. Sie hatte es geahnt, und ist doch ohne Idee, wie das Unglück abwenden. Niemand, dem sie sich anschließen kann, keine Unterhaltung ist ihre Rettung, ist Zuflucht, die, unterbrochen, nun wieder aufgenommen werden kann und ihr Schutz bietet vor dem unweigerlich Folgenden. Doch statt sich ergeben in ihr Schicksal zu fügen, reißt sie ihren Arm von den aufdringlichen Fingern und tritt raschen Schrittes den Weg zum Haus an. Fast verliert sie das Gleichgewicht, ihre Sohlen finden schlecht Halt auf dem losen Geröll, die Steine gleiten unter dem Druck der schnell gesetzten Schritte auseinander, fallen in Kaskaden einige Zentimeter zur Seite. Sie rutscht, doch sie hält ihr Tempo, entschlossen. Entschlossen, dieses Mal nicht Opfer zu sein, nicht freundlich. Nachsichtig.

… to be continued :)


Erinnern. Nicht.

 

Ich erinnere mich nicht, dass ich meine Schwester auffing, als sie die enge und steile Treppe herunterfiel. Eine Holztreppe, mit einem rauen Sisalteppich bespannt, der die Mitte der blutrot lackierten Stufen bedeckte. Meine Schwester sei, Krabbelkind, über die erste Stufe geraten und nach unten gefallen bis ich ihr entgegengelaufen und sie aufgefangen habe. Ich wollte keine Schwester.

Ich erinnere mich nicht, dass ich die Worte schrieb über meinen Urlaub in Amerika, zwischen Cowboys und Indianern. Ein Schulaufsatz sei es gewesen, in der zweiten Grundschulklasse, über unsere Erlebnisse während den Ferien. Vielleicht in Stille und dämmriges Herbstlicht gehüllt, bannte ich verwegene Pferderitte und wilde Landschaften in ein Schulheft, das auf jeder Seite die Schrift in blassblauen Linien fing. Ich wollte nicht vom Schaukeln im Garten schreiben.

Ich erinnere mich nicht, dass ich meine Tante anrief, um ihr mitzuteilen, dass ein Mörder im leeren Rohbau des neuen Hauses sein Unwesen treibe. An unverputzten Wänden las ich Nachrichten, auf staubigen Betonböden sammelte ich Spuren und sie, die Tante möge bitte die Polizeit informieren, damit sie den Mörder festnehmen könne, die Eltern seien ja nicht zugegen. Ich wollte kein neues Zuhause bekommen.


Abseits

 

Jeden Spieltag Aufregung. Jeden Spieltag Alles oder Nichts. Jeden Spieltag das entscheidende Spiel. Um den Aufstieg, um den Abstieg, um einen Platz im Mittelfeld, um einen Rang weiter oben, um eine gute Ausgangsposition. Jeden Spieltag Spannung in den Stimmen, auch wenn im Spiel auf dem Platz keine Spannung ist, in der Fankurve, in der Statistik, in der Endwertung. Etwas ist immer aufregend, ohne Ausnahme, die Stimmen erzählen es mit ihrem Wechsel zwischen laut und leise, zwischen Empörung und Enttäuschung, zwischen Aufschrei und Zusammenbruch. Sie beschreien, was wichtig ist. Etwas ist immer wichtig. Der Untergang, der traurige Abschied, die Wiedererstarkung, die Konstanz, die Überlegenheit ohne Sieg, die Überlegenheit mit Sieg. Immer ganz wichtig, immer ganz jetzt, immer Saison.
Immer ein Spieltag wie nie. Im Radio. Stimmen ohne Bild, mit innerem Bild. Beim Großvater, beim Vater. Genealogie des Aufgeregtseins, des Enttäuschtseins, des Durchhaltens, des den Kopf-hoch-haltens. Das letzte Tor, die letzten Minuten, die letzte Live-Schaltung, der letzte Pfiff. Die Sensation. Die Sensation, die ausblieb. Und die, die keine war. In aufgeregtem Ton. In atemlosen Ton. In Heiserkeit. Die Spielzüge, die guten, die mit Abschluss, die ohne, die, die verlaufen, die, die klappen. Das Tor, das noch fällt, das Tor das nicht fallen will. Der Schiri, der Platz, die Zuschauer. Jede Woche. Jedes Jahr. Wie nie zuvor, wie nie danach. Unvergessen, unvergesslich, regelmässig unwiederholbar.
Nirgendwo ist die Zeit so sehr im Jetzt wie in dem Spiel, das gerade stattfindet.