Satz des Tages – Woche 5

09.12.2017

Wer würde ihr Publikum sein, wenn sie sich jetzt nach vorne wagen würde, diese paar Zentimeter, diesen einen Schritt vom Boden auf die erste Planke, die erste von vielen, die ihr Angst machen, sie in Panik versetzen, so dass sie steht, gelähmt, reglos und wie immer feige und enttäuscht, von sich, ihrer fehlenden Beherrschung, und würden sie es sehen, wenn es gelang, würdigen, wenn sie es schaffte, alles Hindernde niederzuringen und über ihren Schatten zu springen, in diesem Fall: hinüberzutreten, das Bein anzuheben, es durch die Luft vorwärts zu bewegen, das Knie des anderen Beines leicht anzuwinkeln, den Körper sacht aus der Senkrechten voran gleiten zu lassen, um ihn dann endlich aufzufangen, mit diesem einen, diesem unmöglichen, aber denkbaren Schritt und auf einer Planke zu stehen zu kommen, schwankend, zweifelnd und mit zugeschnürter Kehle auf das Unglück wartend, abzustürzen – würden sie dann ihrem Fall applaudieren?

08.

12.

20

17

Das Wasser schlägt mir kalt über die Schultern und die Luftblasen aus meiner Nase rauschen laut in meinen Ohren, meine Arme spüre ich nicht, nicht mehr, seit ein paar Minuten, taub wie die Beine, die eher nutzlos im Schlepptau meines Oberkörpers floaten, nurmehr ein Gewicht, das mitgeschleppt sein will und bestenfalls hilft, nicht die Balance zu verlieren im Dunkel der Nacht, in der nur in der Ferne wenige Lichter von einem Ufer künden, von dem ich nicht sicher bin, es noch zu erreichen, bevor die Kälte und die Erschöpfung meinen Körper erobern und erst jede Empfindung und dann jeden Gedanken löschen.


     07.12.2017 

ich stehe an dem niedrigen zaun aus draht, gestrichen in einem abendblau

ich kann nicht sehen, dass du mich rufst

dabei habe ich dir einen strauß gepflückt aus mohn und mond und nessel

der brennt in meiner hand 

das katerl schlüpft zwischen deinen beinen ins haus.

wenn ich meinen hals strecke, wenn ich auf fußspitzen balanciere

kann ich sehen, wie ich am abendbrottisch neben dir sitzen könnte.


06.12.2017

Vorsichtig öffnet er den Karton und betrachtet das seidig schimmernde Gewebe, so fein, so glatt, dass er im Laden nicht gewagt hat, es anzufassen, bis ihn die Verkäuferin hinter der Theke dazu aufgeforderte, ihm versicherte, dieses sei ein Probeexemplar, auf jeden Fall ein Erlebnis und dass sich seine Frau bestimmt sehr freuen würde über solch ein kostbares Geschenk, und er hatte gespürt, wie sich Freude ausbreitete, nachdem er so lange hatte überlegen müssen, was ein geeignetes Verlobungs------------------------geschenk sein könne für ein solch feines Wesen, eine so anmutige Gestalt wie Ada, und er fühlt den Stolz, der ihn beim Bezahlen erfasst hat, als er sein Geld auf den Keramikteller zählte – das Rascheln der Scheine, das Klirren der Münzen – und sich höflich von der freundlichen jungen Frau verabschiedete, die ihn bei Farbe und Größe beraten hatte – jetzt galt es auf den Abend zu warten, auf einen geeigneten Moment und ihre klaren Augen würden leuchten wie ihre Zukunft und auch er.

05.12.2017

Er blickt sich um – kein Mensch weit und breit, kein Jäger, kein Wanderer, kein Spaziergänger, der sich in dieses Unterholz gewagt hätte, an einem regennassen Tag, an dem die Baumstämme schwarz gegen graue Felsen stehen und nässeglänzendes Moos und Gras das einzig Farbige scheinen neben den Augen des Keilers, die die seinen fixieren.

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04.12.2017                                 

ich stehe an der glut, die nachtschicht brennt ihren tribut in meinen tornister

gefüllt mit andenken und gegenreden und perlen aus schimmerndem fall

ich hülle die hitze mit mohnblüten bestäubt in eine papiertüte so weiß wie milch und honig

und denke an mein verlorenes wort, das nicht mehr in dir zu finden ist.


02.12.2017 

 

was ist, wenn jeder blick fehlt und das ich sich ungesehen wähnt, auf sich gestellt in eines fällt mit dem moment und dem sein und jede entscheidung nur der eigenen vernunft oder unvernunft geschuldet ist?