Formfehler

Was kann ein Autor, eine Autorin in Zeiten wie diesen schreiben? Was darf sie, muss er, was dürfen sie auf keinen Fall? Und was sind denn "diese Zeiten"? Das Leben in Europa, in Frankreich, Belgien oder Deutschland z. B. kann plötzlich nicht nur durch Haushalts- oder Verkehrsunfälle, durch Infarkte oder Krebserkrankungen plötzlich und verfrüht enden, sondern auch dadurch, dass man zur falschen Zeit am falschen Ort ist. An jenem Ort, an dem eine Bombe detoniert oder Gewehrsalven, Äxte oder Macheten zum Weiterleben unverzichtbare Körperteile treffen und außer Funktion setzen. Manches davon geschieht im Namen einer Religion, manches davon in psychischer Dunkelheit. Soziale Medien entgrenzen den Raum des Todes durch die Verbreitung neuer Nachrichten zum selbigen. Lassen Teilhabe nicht im Rahmen dessen enden, der in direkter Linie betroffen ist, als Opfer, als Beteiligter, als Beobachter beispielsweise. Nicht nur dadurch entsteht der Eindruck, dass all dies näher an jeden Einzelnen heranrückt.

 

Ich erinnere mich, ich bin aufgewachsen mit Nachrichtenmeldungen von Terroranschlägen der IRA, der baskischen Befreiungsarmee oder der Roten Armee Fraktion. Palästinenser entführten Linienflugzeuge oder ermordeten israelische Olympiateilnehmer. Regelmäßig erreichten mich Nachrichten zum Krieg im Nahen Osten und der Prager Frühling wurde ebenso niedergeschossen wie die Flüchtenden an der innerdeutschen oder der mexikanisch-amerikanischen Grenze. Die leidvolle Geschichte Afghanistans ist gefüllt von Krieg, Tod und Terror. BP inthronisierte den Shah im damaligen Persien und Ayatollah Ruhollah Musavi Chomeini sandte seine Schergen, ein Land mit Gewalt zu demontieren. Später dann jagte völkerrechtswidrig Amerikas Präsident Bush einen schnauzbärtigen aus der Gunst Gefallenen und nutze dazu alliierte verheerende Heere. "Diese Zeiten" sind also nicht ganz neu. Aber für Franzosen, Belgier oder Deutsche haben sie eine neue Dimension bekommen.


All dies passiert nicht mehr jenseits der Grenzen. All dies – unter dem Begriff Terror gefasst – ist nicht mehr Einzel-, Sonderfall. Speziell die Deutschen hat


das Abwirtschaften des Immobiliensektors in Amerika oder die Krise in Spanien nur bedingt erreicht, doch nun sind "fremde" Aggressoren innerhalb des deutschen Hoheitsgebietes angekommen. Immerhin, wann war nochmal die Zeit, als europäische Länder besonders den afrikanischen Kontinent kolonialisierten? Das ist also doch schon einige Jahre her, aber nicht ohne Bedeutung für viele Probleme, denen wir uns heute gegenübersehen. Armutsemigration, Wirtschafts- oder Kriegsflüchtlinge – die Vertriebenen blieben sicher lieber in ihren Heimatländern, wenn sie eine Chance auf Leben, gerne auch mit Würde und Zukunft, dort sehen würden. Warum dies nicht möglich ist, ist nicht nur ein selbst verfertigtes Problem aus Unfähigkeit oder fehlender Bildung, es ist auch das Resultat von Ausbeutung, Benachteiligung und Bevormundung. Und ich will hier nicht die Rüstungsindustrie vergessen, die ihre Milliarden mit dem Tod (und keineswegs nur mit Abschreckung davor) macht, gerne auch mit allen Beteiligten.

 


Und der Terror trifft in erster Linie nicht diejenigen, die wirtschaftliche oder politische Weichen stellen, es trifft "das Fußvolk". All das geschieht während Monsanto z. B. ungerührt weiterhin Patente auf Grundnahrungsmittel erhebt und Sämereien verkauft, die nur einmal tragen und reichlich Chemie benötigen. Pharmakonzerne forschen nur in Bereichen, in denen ein Krankheitsbild häufig genug vorkommt, um genug Kunden zu generieren – mit Ausnahme von Aids, natürlich. Aidskranke gibt es zwar in den afrikanischen Ländern in beängstigend großer Zahl, aber diese Kranken, die zahlen ja nicht. Und bekommen daher auch keine Medikamente – außer, europäische oder amerikanische Hilfsorganisationen zahlen dafür. Menschlichkeit geht anders. Und dann ist da noch das Nachbarland Türkei, das so lange Teil der EU werden wollte und nun einem Führer huldigt, der es weiter davon wegführt denn je. Es ist nicht das einzige Land, das sein Heil in Abspaltung und Isolation sucht. Inwieweit darin ein Vorteil liegt, wird wohl erst in Jahren ablesbar sein.

 


Kann ein Autor jetzt einen Roman, gar eine Liebesgeschichte schreiben? Kann darin eine Relevanz für das derzeitige Leben liegen? Zeitlicher Abstand erlaubt eine Annäherung an gesellschaftliche Bedingungen. Unterdrückung in der DDR, Verfolgung in der NS-Zeit, Folter unter Franco – es gibt eindringliche und gültige Texte zu diesen Themen Aber wie viele dieser Werke entstanden parallel zu den verarbeiteten Ereignissen? Ist es erst durch den zeitlichen Abstand möglich, bedrohliche Zustände in literarische Fiktion zu verwandeln und damit die Erlebnisse Einzelner als Matrix für Viele zu setzen? In der direkten Bedrohung – wie schreibt es sich da? Die in der DDR entstandenen Romane und Erzählungen kritischer Autoren waren ja keineswegs "aus der Zeit" … Menschenwürde, Freiheit, Toleranz und der Wunsch nach Glück – Themen, deren Virulenz unhinterfragt ist, die das Gerüst guter Stücke bilden, die aber immer nur vermittelt aufscheinen dürfen, damit sie ihre Kraft entfalten können. Dafür die richtigen Worte, die passende Form zu finden, ist manchmal einfach noch schwerer, angesichts mancher Entwicklungen fehlen auch einem Autor einfach die Worte.

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